Ihr seid ja nur Wilde

Im Nordosten Argentiniens, wo Sojabohnen, Mais und Sonnenblumen für den Weltexport wachsen, sterben Kinder an Mangelernährung. Wie kann das sein?

Kinder verdursten, wo Wüsten sind. Und sie sterben, wo die Eltern sie aufgeben. So könnte man denken. Doch im Nordosten Argentiniens gibt es keine Wüste. Im Gegenteil: Braune Flüsse schlängeln sich durch üppiges Grün, teilweise Urwald, viel Buschland. Felder säumen die Straße, von hier aus werden Soja und Mais in die Welt exportiert.

Trotzdem sterben Kinder an Mangelernährung. Am 7. Januar das erste in diesem Jahr. Es kamen weitere hinzu, im Februar berichteten lokale Medien fast wöchentlich von neuen Toten. Sie verhungerten, waren dehydriert, starben an Organversagen. Der Gouverneur der Provinz Salta rief den sozialen und gesundheitlichen Notstand aus, das Rote Kreuz half mit Trinkwasser aus.

Seit Jahren kommt es zu dieser Notsituation, die fast ausschließlich Angehörige der Wichí trifft, einer indigenen Bevölkerungsgruppe Nordargentiniens. Tod in der Kornkammer des Landes, wie kann das sein? Die Suche nach Antworten beginnt in der Comunidad Lantawos Fwolit, fünf Kilometer von der Kleinstadt Tartagal entfernt. Asphaltierte Straßen führen nicht bis hierher.

Hütten mit Wellblechdach liegen hinter Stauden und Bäumen, ringsherum zwischen Dreck und Pfützen spielende Kinder, Hühner laufen herum. „Wir brauchten hier Wasser“, sagt ein Mann. „Seit drei Tagen haben wir kein Trinkwasser. Das macht uns zu schaffen.“ Wasserleitungen gäbe es nicht. Manche der Gemeinschaften hätten Brunnen, doch oft fehle es an Geld, um Benzin für die Pumpen zu kaufen. Und die großen Speichertanks würden von der lokalen Wasserversorgung nur selten befüllt. Aus einer UNICEF-Studie von 2015 geht hervor, dass seinerzeit nur gut die Hälfte der Kinder in dieser Region Zugang zu Trinkwasser hatte.

Keime im Tank

Bis heute bilden sich Keime in den Tanks. Wer das Wasser trinkt, erkrankt an Durchfall und muss sich erbrechen. Bei Kindern mit Mangelernährung kann das lebensgefährlich sein. Doch warum sind sie überhaupt unzureichend versorgt? María Pérez Nieva meint einen Teil der Antwort zu kennen. Sie sitzt in einem Büro des Hospitals von Tartagal, eines Flachbaus mit Säulen. In der Kinderstation werden Kinder im Beisein ihrer Mütter für ein paar Tage künstlich ernährt, danach mit einem Lebensmittelpaket versehen in ihre Gemeinde zurückgeschickt. Nieva leitet das Programm „Atención Primaria de la Salud“ und hat damit nicht nur die Gesundheit der Kinder im Blick, auch die Familien, die Lebensumstände und Einkommensverhältnisse.

Sie spricht leise, als würde jemand mithören. Über die auslösenden Faktoren der Mangelernährung zu reden, das sei „ein sehr delikates Thema“. Und dann erklärt sie, weshalb vor allem die Kinder der Wichí sterben. Sie erzählt von Familien, die nicht darauf achten, was das Kind isst und aus welchen Wassertanks es trinkt. Auch würden Lebensmittelspenden auf dem Markt wieder verkauft, anstatt sie den Kindern zu lassen. Zudem gäbe es Eltern, die – bevor die Kinder etwas bekämen – zunächst einmal selbst essen würden. Sie habe es manchmal mit elfjährigen Müttern zu tun, die nicht wüssten, wie man ein Kind gesund ernährt. Viele seien arbeitslos und würden sich durch staatliche Hilfen über Wasser halten, ein Kindergeld zum Beispiel. „Die Mutter geht damit raus, kommt betrunken zurück, und zwei Tage später ist das ganze Geld aufgebraucht“, erzählt Nieva. Für sie seien das „kulturelle Faktoren“. Würden sich die Wichí mehr anpassen, mehr zivilisieren, gäbe es weniger Todesfälle – so die Argumentation. Aus dem, was sie sagt, lässt sich Resignation heraushören über die Lebensweise einer indigenen Bevölkerungsgruppe – auch Überheblichkeit: Wir, die zivilisierten Städter, die Weißen, und ihr, die Wilden, die Indigenen.

Ein paar Türen weiter sitzt die Aktivistin Octorina Zamora, für die Nievas Erklärung deplatziert klingt und die Wichí diskriminiert. In Zamoras Büro stapeln sich an diesem Vormittag Kartons mit Spaghetti, Windeln, Thunfisch, Reis und Tee, daneben stehen Wasserkanister. „Das Nötigste“, sagt sie und blickt zufrieden auf die Zuwendungen, die am Morgen von einer Hilfsorganisation gebracht wurden. Sie käme jeden Tag hierher – sie käme, seit das erste Kind in diesem Jahr starb. Octorina sagt, sie sei keine Medizinerin, das kleine Büro auf der Kinderstation habe ihr die Krankenhausleitung zur Verfügung gestellt, als sie zum Dauergast geworden sei.

„Das Krankenhaus ist bekannt für Diskriminierung und eine schlechte Behandlung“, sagt Zamora. „Ich bin hier als Garantie für die Mütter und ihre Kinder.“ Schließlich gehöre sie selbst dem Volk der Wichí an. In diesem Jahr hätten sie und andere ihre „Stimmen aus der Stille erhoben“, die Aufmerksamkeit der Presse auf das Thema gelenkt, karitative Organisationen um Hilfe gebeten, die Lokalregierung angeprangert. Ein „Es reicht!“ schwingt in fast jedem Satz mit. Für viele der Mütter, die im Krankenhaus um das Wohl ihrer Kinder bangen, ist Zamora eine Retterin. Sie hört zu, verteilt Lebensmittel, spricht ihre Sprache. Manche wollen nur mit ihr reden.

Auch Zamoras Erklärung für die Todesfälle beginnt mit Armut und verkeimtem Trinkwasser, sie führt weiter über die Kolonialisierung, die angebliche Entdeckung des Kontinents, die in Wahrheit eine „Invasion“ gewesen sei, bis hin zum Neoliberalismus der Gegenwart. „Der argentinische Staat ist über 200 Jahre alt, unser Volk hingegen mehr als 3.000“, meint Zamora. Trotzdem habe er die Wichí immer wie Feinde behandelt und systematisch vernachlässigt beim Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheit. Sicher würden die Kinder das Krankenhaus in einem besseren Zustand verlassen, „aber eben nicht gesund“. Bleibe die Armut, beginne ihr Leiden von vorn.

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