Fotos: Daniel Chatard
Wegen der Braunkohle verliert Nicole Thelens Familie ihren Bauernhof. So hat sie das Jahr 2018 erlebt.
In Immerath beginnt das Jahr 2018 mit zwei hydraulischen Baggerscheren, die sich krachend in das Wahrzeichen des Ortes beißen. Genauer: in die neuromanische Fassade des »Immerather Doms«, einer wuchtigen Pfarrkirche. Sie muss weichen für den Braunkohletagebau Garzweiler. Der Abriss wird sogar in der Tagesschau übertragen.
Für Familie Thelen beginnt damit ein Jahr der Abschiede.
Anderthalb Kilometer liegen noch zwischen ihrem Gemüsehof und dem Schaufelrad des nächsten Braunkohlebaggers. Nicole Thelen, Jahrgang 1970, wohnt seit ihrem zweiten Lebensjahr in dem Ort südlich von Mönchengladbach. Mit 13 lernte sie Ralf kennen, mit 16 tanzten sie auf der Kirmes, mit 19 heiratete sie in seinen elterlichen Hof ein. Heute haben sie drei Söhne und bauen auf 50 Hektar Möhren für eine Supermarktkette an.
Im kommenden Jahr müssen die Thelens gehen, weil Immerath dem Tagebau weichen muss – das wissen sie seit 20 Jahren. Doch gerade in den vergangenen Monaten keimte ab und an etwas Hoffnung auf. Als im Herbst für den Hambacher Forst demonstriert wurde, sagte Nicole Thelen: »Wenn die Debatten richtig hochkochen, dann denke ich manchmal: Wer weiß, vielleicht bleiben wir ja doch?« Unmittelbar vor dem Umzug der Thelens wird so viel wie nie über den Sinn der Braunkohle gestritten, alles kommt zusammen – Hitzesommer und Baumbesetzungen, Regierungsbildung und Klimaschutz.
So kann man entlang der Möhrenernten auch eine Chronik des Jahres erzählen:
Im Januar verschwindet nicht nur der Immerather Dom, sondern auch das Klimaschutzziel der Bundesregierung für das Jahr 2020. Im Ringen um eine neue große Koalition wird die Einhaltung deutscher Zusagen bis 2030 aufgeschoben. Währenddessen verbringen Nicole und Ralf Thelen die ersten Wochen des Jahres damit, die Spätmöhren aus ihrem Kühlhaus zu waschen und zu sortieren. Die Suche nach einer neuen Heimat verläuft schleppend, besonders wegen der Möhrchenwaschanlage. Für die benötigen die Landwirte eine Sondergenehmigung. Auch steht nicht überall genügend zusammenhängendes Land zum Verkauf, jedenfalls nicht am Rand von Erkelenz, wo über die vergangenen Jahre ein Ersatzdorf entstanden ist, samt Pfarrkirche und Veranstaltungssaal. Auf dem Ortsschild steht »Immerath (neu)«. Im Frühjahr wird es im alten Immerath besonders unruhig. Unter Krach laden Bagger die Trümmer der Kirche in Container, …
Erschienen am 03.12.2018 in der Jahresrückblick-Ausgabe der ZEIT. Weiterlesen auf ZEIT.DE.
Wir blieben danach in Kontakt, ich besuchte sie wieder, wir telefonierten, schrieben uns. Am Ende des Jahres bat ich sie, ein Gedächtnisprotokoll der Erlebnisse und Gedanken für bestimmte Wochen anzufertigen, in denen wir keinen Kontakt zueinander gehabt hatten. Diese subjektive Perspektive verknüpfte ich am Ende mit einer Jahreschronik der Klimawissenschaft und Umweltpolitik.