Alte Wunden

Hunderttausende Menschen flüchten aus der Ukraine in die Republik Moldau. Dort wächst die Sorge, dass Putins Truppen weiter­marschieren werden.

Fotos: Mikhail Kalarashan, Mitarbeit: Mircea Bastovoi

11.21 Uhr: „Hilfe, bitte. Wir sind seit 24 Stunden unterwegs. Wir sind neun Menschen, davon sechs Erwachsene und drei Kinder. Wo können wir schlafen?“

11.27 Uhr: „Eine Frau und vier Kinder sowie zwei Frauen und ein Mädchen. Wir sind in Edineț und brauchen dringend einen Schlafplatz in Chişinău. Unklar, für wie lange.“

11.40 Uhr: „Frau mit großem Hund. Brauche einen Ort zum Bleiben.“

Es ist der 4. März 2022, Tag 9, seitdem Putins Russland die Ukraine angegriffen hat. Olga scrollt durch die digitalen Hilfeschreie in einem Telegram-Kanal. Die Ärmel ihrer Trainingsjacke hochgekrempelt starrt sie auf einen Laptop, der auf einer langen Tischreihe steht, um sie herum weitere junge Menschen, alle zwischen 20 und 40 Jahre alt. Sie tippen auf Tastaturen, telefonieren, laufen hin und her auf dem roten Teppich und vor den langen Fensterreihen mit schweren Vorhängen.

Chişinău, die Hauptstadt der Republik Moldau, hat sich seit Kriegsbeginn zum sicheren Hafen für viele Flüchtende aus der Ukraine entwickelt. Die Stadt liegt nur rund 100 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Bis Odessa, wo sich die Menschen vor Angriffen durch russische Raketen und Panzer wappnen, sind es nur 150 Kilometer.

Nach Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks haben bislang mehr als 100.000 Menschen aus der Ukraine in Moldau Schutz gefunden. Im Empfangssaal des Regierungsgebäudes in Chişinău haben Freiwillige eine Hilfsorganisation eingerichtet, die Regierung hat ihnen den Raum überlassen. Von hier aus organisieren sie Essen, SIM-Karten, Schlafplätze, Transport und erste Hilfe für die Flüchtenden.

Auch Olga ist seit Kriegsbeginn jeden Tag hier. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen, sie will angesichts der Lage nicht zu sehr in der Öffentlichkeit stehen, wie so viele, mit denen man in diesen Tagen in Moldau spricht. Nur so viel: „Normalerweise“ arbeite sie in einer Bildungsorganisation. Nun vermittelt sie Schlafplätze für diejenigen, die seit Tagen auf den Beinen sind.

Nur: Wie lange noch? Müssen sie und die anderen Freiwilligen vielleicht selbst bald fliehen? Denn die Republik Moldau ist nicht nur wegen ihrer Nähe zum Krieg in einer besonderen Position. Im Osten der Republik liegt lang gezogen und durch den Fluss Dnister abgetrennt, die Provinz Transnistrien mit etwa einer halben Million Menschen. Sie hat sich mit dem Zerfall der Sowjetunion in einem militärischen Konflikt, der erst durch das Eingreifen russischer Truppen 1992 beendet wurde, für unabhängig erklärt.

Seither agiert das Gebiet autonom, mit eigener Währung – dem transnistrischen Rubel –, eigener Regierung, eigenem Militär. Obwohl von keinem UN-Staat der Welt anerkannt, unterstützt Russland die Provinz mit Investitionen in die Infrastruktur und günstigem Gas. Es bestehen enge Verwandtschafts- und Arbeitsbeziehungen. Russland erleichterte die Vergabe russischer Pässe seit den 2000er Jahren; heute hat etwa die Hälfte der Bevölkerung Transnistriens einen russischen Pass. Zudem sind noch immer etwa 1.300 russische Soldaten in dem Gebiet stationiert.

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