Frau Hartmann kommt halb acht

Stefanie Hartmann arbeitet als Altenpflegerin. Täglich fährt sie von Haus zu Haus, quer durch die ländliche Region Südniedersachsens. Sie bleibt, wo andere gehen: in der Region, im Pflegeberuf

Stefanie Hartmann beobachtet die Tropfen, die aus dem braunen Fläschchen zwischen ihren Fingern in ein Wasserglas fallen. 20, 21, 22. Hartmann, 34 Jahre, freundliche Gesichtszüge und dunkle Haare, sitzt auf einem Sofa, umgeben von Dutzenden Puppen und Stofftieren. Sie erwidert die Blicke der Knopfaugenpaare nicht, zu oft war sie schon hier, ein Arbeitsumfeld wie viele andere. Hier, im Wohnzimmer der Frau Jahn, die ihr gegenüber in einem Sessel versinkt und eigentlich anders heißt, wie alle Pflegebedürftigen in diesem Text. 23, 24, 25. Frau Jahn ist depressiv und die 25 Tropfen helfen ihr, das auszuhalten. Hartmann legt noch Tabletten auf den Tisch: einen Entzündungshemmer und etwas gegen Bluthochdruck. „Die üblichen Altersthemen.“ Sie verabschiedet sich und schaut auf die Uhr. 7.32 Uhr, zwei Minuten verbrachte sie bei Frau Jahn – drei weniger, als der Tagesplan kalkuliert.

„Manchmal bleibt man ja noch ein bisschen sitzen“, sagt Hartmann auf dem Weg zum Auto. Heute nicht. Denn Frau Jahn ist die erste von sechs Stationen. Hartmann fängt sonst schon um 6 Uhr morgens an, doch für heute hat sie „eine ruhigere Tour“ rausgesucht, wohl auch, um den Reporter nicht zu sehr zu strapazieren. Es folgen: Kompressionsstrümpfe, große Pflege, nochmal Kompressionsstrümpfe, nochmal große Pflege, Wundverband, Feierabend.

Stefanie Hartmann ist Altenpflegerin beim Pflegedienst „Villa Juesheide“ in der Kleinstadt Herzberg am Harz, Südniedersachsen. Viele ziehen nach der Schule von hier weg, zurück bleiben die Alten. Zwischen 2012 und 2030 könnte die Bevölkerung der Stadt um knapp 20 Prozent sinken, prognostiziert das Demografieportal Wegweiser Kommune. Über ganz Deutschland verteilen sich Gemeinden mit ähnlichem Schicksal.

Hartmann blieb. Und sie wurde Altenpflegerin. Ein Job, den viele ihrer Freunde mit einem Satz kommentieren: „Ich könnte das ja nicht.“ Weil viele so denken, kommen in Deutschland auf 100 freie Stellen in der Altenpflege nur 19 qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber. Das geht aus einem aktuellen Bericht der Bundesagentur für Arbeit hervor. Ein Arbeitsplatz für eine Altenpflegefachkraft bliebe im Bundesdurchschnitt 183 Tage offen, bis sie besetzt werde – das ist 63 Prozent länger als bei allen anderen Berufen. In ländlichen Regionen sei die Situation noch angespannter, heißt es in Fachstudien.

Jeden Morgen brechen Hartmann und ihre Kolleginnen auf und fädeln sich mit ihren Autos wie weiße Blutkörperchen in die Verkehrsadern der Kleinstadt ein, um ein sozialpolitisches Versprechen zu erfüllen: in Würde altern. Ein hoher Anspruch, viele Widrigkeiten.

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Fotos: © Fabian Franke